Assoziationen zum Glück
Der Mensch und seine Natur

 "Die Einheit des Menschen mit der Natur", schreibt Hegel, ist zwar ein "beliebter und wohlklingender Ausdruck"; doch falsch. Richtig muß es heißen: "die Einheit des Menschen mit seiner Natur. Seine wahrhafte Natur aber ist die Freiheit, die freie Geistigkeit, das denkende Wissen des an und für sich Allgemeinen, und so bestimmt ist diese Einheit nicht eine natürliche, unmittelbare Einheit mehr. ... Man spricht von unschuldigen Kindern und bedauert, daß diese Unschuld, diese Liebe, dies Vertrauen verlorengeht, oder man spricht von der Unschuld einfacher Völker, die aber seltener sind, als man glaubt. Diese Unschuld ist aber nicht der wahrhafte Standpunkt des Menschen; seine Sittlichkeit ist nicht die des Kindes, sie steht höher als die genannte Unschuld. Es ist selbstbewußtes Wollen; dieses erst ist das wahrhafte Verhältnis" (Hegel: Werke 16. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I; Ffm. 1978, S.267f.).

 So wahr die Einheit des Menschen mit der Natur keine natürliche unmittelbare Einheit ist, so wahr ist doch auch, daß der Mensch wie jedes andere Lebewesen ein natürliches Lebewesen ist - und dieses natürliche Lebewesen bleibt, welche Freiheiten er sich auch immer der Natur gegenüber herausnimmt. Er ist und bleibt Natur in Natur, auch wenn er seine Natur nicht in der gleichen Weise hat, wie Tiere und Pflanzen ihre Natur haben: wenn ihm seine Natur aufgegeben ist - und die Aufgabe heißt, es mit dieser und jener Bestimmung zu versuchen, Erfahrungen zu sammeln, Wissen zu gewinnen und sich aus diesem Wissen heraus die Natur zu erstellen, mit der er sie auch in Zukunft erstellen und umstellen kann. Das Wissen, das nirgends geschrieben steht, auch den Genen natürlich nicht eingeschrieben ist, dieses fragliche Wissen, das primär praktisch zu erfragen ist, ist ein bewegendes Wissen. Es setzt im und am Menschen, mit Marx gesprochen, "die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand" in Bewegung, damit er sich "den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form" aneignet (Marx: Kapital I, S.192). Es bewegt ihn, wie der Instinkt das Tier bewegt, seiner Selbsterhaltung wegen aus sich herauszugehen - und sich im Äußern zu holen, was dort in Hülle und Fülle vorhanden ist, im Innern aber fehlt: die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken, das Futter zum Essen und was sonst zum Leben noch gebraucht wird.

 Anders als die vom Instinkt geleitete Bewegung des Tieres ist die vom Wissen getriebene Bewegung des Menschen eine Bewegung, die das Ziel seiner Selbsterhaltung vorläufig verfehlt - und nicht nur zufällig. Wie drängend sein natürliches Verlangen nach dem Naturstoff auch ist, den er zum Leben braucht, er weiß von Natur aus nicht, wie er aussieht, schmeckt oder riecht, wo er zu finden, wie er zuzubereiten ist. Er will es nur wissen. Und zu diesem Zweck setzt er die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte in Bewegung - und geht aus sich heraus: des Wissens wegen, das er braucht, "um den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen". Dieses Wissen muß nicht nur wissen, wo und wie der zum Leben zu gebrauchende Naturstoff zu finden ist, es muß auch wissen, wie er zu formen ist, damit der Mensch ihn auch gebrauchen kann. Es muß ein Wissen sein, das ihm auch die Macht gibt, die Fülle der Natur, "das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit" zu unterwerfen (ebd.): ein zweckrationales Wissen, das "die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand" in ihren Bewegungen so entschieden diszipliniert, daß ihre Leistung eine überwältigende ist - und aus dem für ihn nicht zu genießenden Naturstoff eine brauchbare Mahlzeit wird, die auch anders aussehen und besser schmecken könnte. Das weiß der Mensch.

 Er weiß mehr als er denkt, wenn er nur zweckrational denkt. Das Wissen, das der Mensch gewinnt, wenn er außer sich ist, mit Sinnen bei den Gegenständen der Natur, die auch ihn und mit ihm vieles mehr im Sinn haben, ist ein aufschlußreiches Wissen - und nicht das Wissen, das ausschließlich darauf fixiert ist, etwas Bestimmtes zu kriegen, eine Sache aus ihrem Zusammenhang zu reißen und als Beute dingfest zu machen, das Spiel der Naturkräfte seiner Botmäßigkeit zu unterwerfen, damit es ihm die notwendigen Lebensmittel abwirft. Auf dieses techno-kratische Wissen hin ist das Wissen zwar fortschreitend anzuordnen, dem aber nicht mechanisch unterzuordnen. Wenn, dann wissentlich: in dem Wissen, daß die Instrumentalisierung des Wissens zum Zweck der Naturbeherrschung vielleicht eine im Augenblick notwendige ist, deren Erfolg aber nicht besagt, das die notwendigerweise getroffene Entscheidung auch ein glückliche war. Das Wissen, das seine technische Anwendung zum "Kampf ums Dasein" nicht für der Weisheit letzten Schluß hält, weiß die in der "Stunde der Gefahr" getroffene Entscheidung, auch wenn sie siegreich ausgeht, vielmehr als bedauerliche Entscheidung: als Eingriff in das Spiel der schöpferischen Kräfte der Natur, der diesem Spiel gewaltsam ein Ende setzt und damit Kräfte zur Strecke bringt, die eine weisere Entscheidung glücklicherweise am Leben gelassen hätte. Mit anderen Worten: Die gelungene Beherrschung der Natur ist Ausdruck einer Katastrophe der Natur, die es nicht verdient, als Sieg gefeiert zu werden. Sie ist ein Eingriff in das Geheimnis der Schöpfung, das mit diesem Eingriff nicht gelüftet, sondern im Gegenteil verstellt wird - und unwiderruflich verstellt wird, wenn er mit der Behauptung einhergeht, die Schöpfung auf diesem Wege richtig zu stellen.

 Kann der Mensch auch unmöglich auf den - technischen - Eingriff in die Natur verzichten und die darauf folgende Naturkatastrophe vermeiden, bleibt es ihm als Naturwesen nicht erspart, andere Lebewesen "seiner eignen Botmäßigkeit" zu unterwerfen, sie aus dem Weg zu räumen, wo er seine Straße hinhaben will, sie zu zähmen, wo er ihrer Dienste bedarf, sie zu töten, wo sie eine Mahlzeit hergeben, seine Kleidung liefern, so muß er diese katastrophale Tätigkeit und sein damit verbürgtes Überleben doch nicht als sein Glück werten. Er muß es nicht. Er tut es. Von Anfang an. Seit Adam und Eva. Schon die ersten Menschen erlagen der Versuchung, das Eine vom Anderen zu trennen - und in der Niederlage des Anderen kein Unglück zu sehen. So wurden sie, von Natur aus durchaus guten Willens, bösen Willens. "Darauf folgte die gerechte Verdammnis" (Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 11-22. München 1978, S.187): die Vertreibung aus dem Paradies.