„Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft", schreibt Hegel, „ist der Staat einerseits eine äußerliche Notwendigkeit und ... anderseits ist er ihr immanenter Zweck und hat seine Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses der Individuen, darin, daß sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte haben" (Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7. Ffm. 1996, § 261).
Wenn die Gesellschaft nicht aus sich heraus die Gemeinschaft zu stiften vermag, in der und mit der die Individuen es sich wohl sein lassen können, dann, da ist Hegel nicht zu widersprechen, ist der Staat zwingende Notwendigkeit: „kein Kunstwerk", wie Hegel richtig sieht, sondern ein Machtinstrument, das die Welt als eine „Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums" (§258) zur Kenntnis nimmt und entsprechend mit ihr verfährt. Einerseits als Retter in der Not. Und andererseits als Verbesserer der Sitten, die ohne den staatlichen Eingriff, wie Hegel fest überzeugt ist, nicht aus der „Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums" herauskämen. „In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste..."(§ 256). Mit ihm erst stellt sich der Unterschied von Mensch und Natur heraus.
„Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee - der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt" (§ 257). Er ist „das an und für sich Vernünftige", das Bewußtsein des Menschen, mit dem er überhaupt erst seine Freiheit nutzt und dem unmenschlichen „Absolutismus der Wirklichkeit" (Blumenberg) entkommt. Es ist darum des Menschen „höchste Pflicht", Mitglied des Staates zu sein (§ 258). Dazu ist er in jedem Fall verpflichtet, auch dann, wenn der Staat ein unvollkommener ist, wie er das bislang stets war, in den frühen Hochkulturen und auch in den Staaten des klassischen Altertums noch war. Der Mensch mag es wissen oder nicht, das menschliche Wesen „realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind: es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft. Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten" (§258. Zusatz). Es bietet sich an, die Idee des Staates nicht von der „Idee des Menschen in der Männergesellschaft" zu trennen, die auf den „Wunschtraum der Jahrtausende" abgestimmt ist, „grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln" (Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung. Ffm. 1969, S.264).
Die Gesellschaft ist natürlich das Erste! Hält Marx Hegel vor. Genau gesagt: „In Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt" (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S.5).
Natürlich weiß auch Hegel, daß in Gemeinschaft produzierende Individuen der Ausgangspunkt sind: die Basis - und nicht mehr; eine Naturnotwendigkeit, die den Individuen die Freiheit läßt, mit dem Produzierten Staat zu machen, so daß der Geist in der Welt zum Stehen kommt und sich „in derselben mit Bewußtsein realisiert, während er sich in der Natur nur als das Andere seiner, als schlafender Geist verwirklicht" (§258. Zusatz). Die gemeinschaftlich betriebene Arbeit der Selbsterhaltung ist - nach Hegel - der Ausgangspunkt, der zu verstaatlichen ist, damit die Menschen ihren Geist nicht verschlafen, sondern sich auf den „langen Weg" machen, durch den sie sich aus ihrer anfänglichen Geistlosigkeit herausarbeiten (Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1952, S.26). Nach Marx ist es die Basis selber, die den Geist nicht schlafen läßt und den Weg weist, die gemeinschaftlich betriebene Arbeit der Selbsterhaltung zunehmend geistvoller wahrzunehmen: eine Basis, auf der die Individuen nicht nur stehen bzw. in der sie fußen, sondern die sie auch sind. Es ist daher „vor allem zu vermeiden, die 'Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen" (Marx: MEW Ergbd. 1.Teil, S.538). Das heißt, daß es kein soziales Wesen ist, auch wenn es auf soziales Verhalten nicht verzichten kann, wie es auch kein rationales Wesen ist, obwohl es ohne rationales Verhalten nicht überlebt.
Ameisen und Bienen, Schafe und Wölfe sind soziale Wesen. Der Mensch ist es nicht. Nicht seinem Wesen nach. Danach ist er eher ein politisches Wesen: „im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann" (Grundrisse ... S.6); ein Tier, das wie jedes andere Tier die Natur zu seinem Gegenstand hat, den es sich in artspezifischer, sinnlich-tätiger Weise zu eigen machen muß. Ein unmögliches Tier allerdings, insofern es seine Art ist, aus der Art zu schlagen und über diese Unart seine Art auszumachen, mit er es sich dann in phantastischer Weise durchschlägt: ein gesellschaftliches Wesen eben - und kein Wesen, das seine Gemeinschaft mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen hat. Dieses unmögliche Tier hat diese Gemeinschaft, die es wie jedes mögliche Tier natürlich braucht, nicht in schicksalhafter, sondern in stets passender Form: in reflektierter Form - im Unterschied zu der reflexiven Form anderer Lebewesen; in politischer Form, die primär nicht staatlicher Natur ist. Sie ist immer aktuell: gegenwärtig, auch wenn sie ihre Tradition hat. Sie gibt ihm keine Ruhe, nur die beruhigende Gewißheit, daß seine Unruhe, diese ihm auch im Schlaf keine Ruhe gebende eigensinnige Wahrnehmung der Wirklichkeit, nicht ins Leere laufen muß, sondern sich in der Gemeinschaft mit anderen Individuen verarbeiten läßt.
Die Gemeinschaft, die der Mensch braucht, „um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen", hat, wie Marx nahelegt, was Hegel fern liegt, die Form einer geistigen Konzentration, wie sie sich im Singen und Tanzen finden läßt. Vorausgesetzt, die Weise ist eine ausgelassene: kein Spaß, aber ein „Zustand der Lust, den man", wie Nietzsche bemerkt, „Rausch nennt", der Leib sich in einem Takt bewegt, „der leicht betäubt und zugleich in ein Maß bringt", wie es bei Ernst Bloch heißt. So lebt das Allgemeine, ohne das es nichts Besonderes gibt, lebt die notwendige menschliche Gemeinschaft auch in den sprachlichen Äußerungen der Individuen - und geht diesen nicht voraus. Und lebt, wenn sie lebt, in politischer, d.h. poetischer Weise: „rhythmisch und phantastisch zugleich", wie George Thomson die poetische Sprechweise kennzeichnet (Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis. Berlin 1960, S.391). Sie findet sich von Angesicht zu Angesicht, aber auch dann, wenn im Augenblick kein Gesicht zu sehen ist: in der rhythmisch betonten „Verlängerung des Augenblicks der sinnenden Betrachtung, des Augenblicks, in dem wir zugleich träumen und wachen" (Yeats, zit. ebd.). So hat sie Marcel Proust auf seinen einsamen Streifzügen durch die Umgebung von Combray gefunden, wie er sich erinnert - und noch in Erinnerung hat, wie die „Mauern der Häuser, die Hecke von Tansonville, die Bäume des Waldes von Roussainville" von ihm in seiner überschwenglichen Bewegungslust „Schläge mit dem Regenschirm oder Stock" erhielten, begleitet von „lautem Jauchzen", mit dem sich seine Begeisterung Luft verschaffte. Dabei spürte er, daß die taktierenden Schläge ihn nötigten, „nicht bei solchen unklaren Lauten stehenzubleiben, sondern zu versuchen, (seinem) Entzücken klaren Ausdruck zu geben". Er spürte, daß sein Entzücken Liebeslust ist und diese ein menschliches Gesicht besitzt, das es außer ihm zu finden galt - und anzusprechen war, wenn die Begeisterung durch und für die erwanderten Erfahrungen wesentlich sein sollte: „ein ländliches Mädchen", das er in seine Arme nehmen konnte; „ein Gewächs der Gegend, freilich von höherer Art und ihrer Natur nach so beschaffen, daß man durch sie der auf dem Grunde verborgenen Essenz des Landes näher kommen konnte als auf irgendeinem anderen Wege" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Ffm. 1981, S.206ff.). Das sich aber nicht fand.
Weil der Junge die Gemeinschaft nicht fand, die er auf seinen Wanderungen am Tage und auch noch in seinen Träumen in der Nacht suchte, hörte er auf, die Wünsche, die in ihm auf „einsamen Wegen entstanden, als etwas anzusehen, was andere Wesen teilten und was an sich und unabhängig von (ihm) einer Wahrheit entspräche". Sie erschien ihm „nur mehr wie rein persönliche, ohnmächtige, trügerische Schöpfungen" seines Gefühlslebens, die „keine Verbindung mit der Natur und mit ihrer Wirklichkeit" hatten und „die von da an jeden Reiz und jede Bedeutung verlor" und seinem Leben „nur noch einen herkömmlichen Rahmen bot, wie für einen Roman der Eisenbahnwagen, in dem der Reisende ihn liest, um die Zeit totzuschlagen" (ebd. S.211).
Die Gemeinschaft, die der Mensch natürlicherweise nicht hat, die er aber notwendiger Weise braucht, um seine natürliche Not zu meistern, drängt sich nicht auf, wenn „Not am Mann" ist, sondern stellt sich ein, wenn keine Not ist: wenn die Augen Zeit zum Umherschweifen haben, die Ohren die Zeit, sich umzuhören, wenn die Sinne sinnieren können, sie Zeit haben, um „unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker" zu sein. Und wenn Zeit Geld ist, so nehmen sie sich doch auch ihre Zeit. Sie nehmen sie sich heimlich: „Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen", Goethe sagt es im Vorwort zu seiner Farbenlehre, „daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren", so daß die Forderung, man solle Erfahrungen ohne „irgendein theoretisches Band" vortragen, eine „höchst wunderliche Forderung" ist, wie Goethe hinzufügt.
Die wunderliche Forderung ist keine unbegründete Wunderlichkeit. Marx kennt den Grund: „Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben" - und Erfahrungen nur als Mittel zum Zweck zählen (Marx:: MEW. EB. S.540). Das Privateigentum bzw. das Streben danach, die Habsucht hat uns blind für den Sinn der Sinnlichkeit gemacht - und die Sinne zu stupiden Lieferanten von Sinnesdaten herabgestuft, die ein Verstandesapparat a priori methodisch verarbeitet. „Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation grade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden" (ebd.).
Dem Blick und nicht nur dem Blick, allen Sinnen wohnt, wie Benjamin sagt, die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem sie sich schenken (I.2, S.646). Ihnen ist nachweislich ein Reizbedürfnis eigen - Jean Piaget hat es u. a. nachgewiesen -, das sie treibt, zu den wahrgenommenen Gegenständen in ein dialektisches Verhältnis zu treten. Die von ihnen ausgehenden Reize werden nicht lediglich als Informationen registriert, um die Quelle dieser Reize dingfest und verfügbar zu machen. Sie werden nicht als Nachrichten gewertet, mit der die Sache, von der sie berichten, nur noch rigoroser zu versachlichen ist, perfekter unter Kontrolle zu halten. Sie werden empfangen, wie man Gäste empfängt: wie man einen Besuch empfängt, der die Gelegenheit bietet, den eigenen Horizont zu erweitern - und das Wahrnehmungsvermögen zu bilden. Was für alle seinen Reiz hat. Und auch den Vorteil, den „Kampf ums Dasein" mit mehr Umsicht und weniger Kampf führen zu können.