Wenn es denn stimmt und es stimmt mit Sicherheit in dem Land, in dem wir wohnen, „daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern", dann kann die Feststellung nicht beruhigen, daß die herrschenden Besitzverhältnisse praktisch keine andere Alternative zulassen als die „Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein" (S.41), es noch das beste sei, „das Privatleben (zu) führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so (zu) belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen" (ebd.). Wie Adorno selber zugibt, ist das eine ziemlich hohle Moral und nur „eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen" (S.42). Er rettet sich in die Floskel: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen" (ebd.).
Es gibt kein richtiges Leben für den Einzelnen, wenn es im Ganzen um etwas anderes geht als um dieses Leben. Doch jedes einzelne Leben ist ein Leben, das es richtig will. Wenn die Gesellschaftsordnung auch keine Alternative gestattet, so vermag der Einzelne doch durchaus die Geduld gegenüber den Bedürfnissen verlieren, die es nicht anders dulden, und sie zu einem Verhalten zu motivieren, das den herrschenden Besitzverhältnissen auch praktisch trotzt und dem Individuum rät - bei aller berechtigten Sorge, ohne privaten Besitz „in jene Abhängigkeit und Not" zu geraten, die nur „dem blinden Fortschritt des Besitzverhältnisses zugute kommt" - einen Anfang mit der Aufhebung des Privateigentums zu machen, der die Möglichkeit des Wohnens sichtbar verbessert. Ist sie verbessert, die Wohnung nicht das Etui der „muffigen Interessengemeinschaft der Familie", das sich anderen Interessen gegenüber mit gutem oder schlechtem Gewissen verschließt, ist sie ein Ort der Geborgenheit, auf die gewiß nicht zu verzichten ist, der auch für andere zu erreichen ist, verbessern sich auch die Chancen, draußen mehr zu erreichen. Zufällige Kontakte auf Straßen und Plätzen, in Kneipen und Cafés sind weniger zwingend dem Zufall zu überlassen. Sie lassen sich eher als Begegnungen organisieren. So auch die sich systematisch wiederholenden Kontakte im „Berufsleben". In meinem Fall vor allem die Kontakte zu den Besuchern meiner „Lehrveranstaltungen" im Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Bielefeld: Studenten und Studentinnen, die sich zu SozialarbeiterInnen bzw. SozialpädagogInnen ausbilden lassen wollten und zu diesem Zweck laut Prüfungsordnung von mir etwas aus dem Lehrgebiet „Politikwissenschaft, insbes. Theorien der bürgerlichen Gesellschaft, Jugend- und Familienpolitik, Sozialphilosophie, insbes. Wissenschaftstheorie" hören sollten und vielleicht auch wollten.
Davon ausgehend, daß sie auch wollten, was sie sollten, mußte ich auch davon ausgehen, daß meine „Hörer" zu dem Gehörten ihrerseits etwas zu Gehör zu bringen hatten - und das auch wollten und nicht mit Vorlesungen abgefertigt werden wollten: daß jeder auf jeden zu hören hatte, der Professor auf die StudentInnen so gut, wie diese auf den Professor, dieser daher den professoralen Vorstellungen zum Thema nicht das Theater versagen konnte, mit denen sie sich als eine gesellige und darüber hinaus gesellschaftliche Vorstellung einspielten. So habe ich mir abgewöhnt, meine Vorstellungen guten Gewissens als meine festzuhalten und mich mit ihnen von denen der StudentInnen abzusetzen. Was nicht heißt, daß sie dem Zufall überlassen blieben. Dienst ist Dienst: Kundendienst; die Pflicht, sich bezahlt und Lehrangebote zu machen. Darauf war ich gefaßt - und vorbereitet: schriftlich, versteht sich, auch wenn die zu Lehrzwecken schriftlich ausgearbeiteten Vorstellungen sich in der Lehre eines Besseren belehren lassen mußten - und nach der Veranstaltung nicht mehr zu halten waren. Kein Grund, sie fallen zu lassen, ein Grund aber, sich auf die belehrten Vorstellungen neu einzustellen: ohne Öffentlichkeit; im eigenen Zimmer, den Blick, der zuvor andere Blicke im Auge hatte, aufs Papier gerichtet, um sich die fragwürdig gewordenen Vorstellungen wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen und den Sinn zu klären, der auf Um- und Abwegen aufgekommen war. Das nicht, um mit den Aufzeichnungen den Hörern in der nächsten Lehrveranstaltung Bescheid geben zu können. Nicht, um überzeugender zu wirken. Eher, um flüssiger erzählen zu können: von Menschen und Dingen auch, die weit weg sind, über die Welt verstreut, praktisch nicht zu erfahren, von denen und über die aber berichtet werden kann - und berichtet werden muß, wenn sich denn der gesellschaftliche und geschichtliche Sinn der Dinge erschließen, die Debatte sich nicht im Kreise drehen soll.
Die im Stillen vertieften und schriftlich notierten Vorstellungen, die nicht nur die Erinnerungen an die vergangene „Debatte" notierten, sondern diese zugleich mit einer anderen Note versahen, waren auch in der Form der Nachbereitung nicht als Vortrag vorgesehen, in dem die vorgetragenen Worte allein für sich, d. h. für mich sprachen, so daß ich auch gut zu Hause hätte bleiben können. Umgekehrt: Nicht sie sollten für mich, sondern ich wollte für sie sprechen, so daß die häuslichen Aufzeichnungen zu Hause bleiben konnten. Da blieben sie dann auch liegen. Und häuften sich. Sie waren damit nicht abgeschrieben, sondern bildeten mit der Verbindung von alten und neuen Vorstellungen Bruchstücke zu neuen Stücken, die bei ihrer Aufführung zu Hause blieben und das Sammelsurium der Bruchstücke zu weiteren Stücken ergänzten. Und so weiter und immer weiter, wenn es denn immer weiter gehen kann. Doch so kann es nun nicht mehr weitergehen. Der „Ruhestand" ist eingetreten. Es ist Zeit, sie abzuschreiben, wenn nicht zu verbrennen oder sie im Keller verstauben zu lassen, sie so aufzuschreiben, daß sie sich mit mir in den „Ruhestand" verabschieden können - und dann auch zu lesen sind: am besten von Lesern und Leserinnen, die an dem Text kein „brennendes Interesse" haben, sondern ein praktisches, das abschweift und sich den unbeschwerten Augenblick des Lesens beschwert. Denn „wie das bloße Anblicken einer Sache", wie Goethe schreibt, „uns nicht befördern kann", so auch nicht das bloße Lesen eines Textes.
Was uns befördert ist der Blick, der im Anblick der Sache auch die Blicke erblickt, die ihm mit der Sache entgegenkommen: ein Realismus, der realistischer als der Realismus ist, der seiner Sache nur sicher ist, wenn er sie fest unter Kontrolle hat; ein Realismus, der realistisch genug ist, die Realität als eine wahrzunehmen, die auch ihren eigenen Sinn hat, über den nicht abzustimmen ist, mit dem aber Übereinstimmung zu erzielen ist. Was zu bedenken ist. Zu bedenken ist, daß die Sinne nicht nur Mittel zum Zweck sind, sondern auch Sinn haben für ihren Sinn: daß sie dem Denken nicht nur Stoff, sondern auch ihre Bedenken zu bedenken geben; daß sie, wie Marx sagt, „unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker" sind; daß jedes Ansehen, wie es bei Goethe weiter heißt, in ein Betrachten übergeht, „jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen", so daß man sagen kann, „daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren", so daß es „doch eine höchst wunderliche Forderung" ist, „Erfahrungen solle man ohne irgendein theoretisches Band vortragen und dem Leser, dem Schüler überlassen, sich selbst nach Belieben irgendeine Überzeugung zu bilden" (Vorwort zur Farbenlehre).
Meine verstreuten Bedenken zu der höchst wunderlichen Forderung, meine eigensinnige Sichtweise aus den Lehrveranstaltungen herauszuhalten und den Studierenden es zu überlassen, sich eine eigenständige Meinung zu bilden, habe ich noch einmal neu überdacht - und sie als
aufgeschrieben. Einer Anregung Walter Benjamins folgend, dem „die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft", die doch im deutlichen Gegensatz zu „so vieler Selbstsucht im Einzelnen" steht, zu denken gibt. Er erklärt sich diese bemerkenswerte Eigentümlichkeit des menschlichen Gemüts, auf die ihn Hermann Lotze aufmerksam gemacht hat, mit der Tatsache, „daß die Vorstellung vom Glück, die wir haben, aufs tiefste von der Zeit tingiert ist, die die unseres Lebens ist" und daher „nur vorstellbar in der Luft, die wir geatmet, unter den Menschen, die mit uns gelebt haben": unter dem tröstenden Umstand einer Assoziation also, die wir leider nur als einen ziemlich trostlosen Zustand kennen, der es nicht verdient, gefeiert zu werden, wohl aber, in einen weniger trostlosen Zustand überführt zu werden, damit in der Welt etwas entsteht, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat", wie Ernst Bloch schreibt; eine Welt, die den wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht verachtet, wohl aber den Wahn, daß dieser Fortschritt den gesellschaftlichen automatisch nach sich ziehe.
Wie gesagt, nicht der wissenschaftlich-technische Fortschritt als solcher ist infrage zu stellen. Infrage steht die höchst wunderliche Forderung, wie sie etwa von Wolfgang Schäuble kommt (Und der Zukunft zugewandt. Berlin 1994), wir müßten unbedingt „ja sagen zum Fortschritt von Wissenschaft und Technik" - und glauben, daß der unaufhaltsam über unsere gesellschaftliche Natur sich hinwegsetzende technische Fortschritt vorwärts „in eine bessere Zukunft" geht, wie es dreist heißt. Dabei ist eher anzunehmen, „die Wellen verschlingen / am Ende Schiffer und Kahn". Was auch mit Singen zu tun hat, das „die Lorelei getan". Anders gesagt: Der stürmische Fortschritt, der unaufhaltsam ist, ist ein verhexter - und alles andere als aufgeklärt, vielmehr eine Romanze. Dargestellt unter dem Titel
„Fortschritt im Sturm, der vom Paradies her weht".
Die verhexte Einstellung zum technischen Fortschritt ist natürlich keine Hexerei und den Frauen in die Schuhe zu schieben, auch wenn ihr verführerischer Gesang Teil daran hat. Eher ist sie Männersache: „die Idee des Menschen in der Männergesellschaft", wie Horkheimer und Adorno meinen, die auf den „Wunschtraum" abgestimmt ist, „grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln" (Dialektik der Aufklärung. Ffm. 1969, S.264). Und das schon seit Jahrtausenden. Schon seit Jahrtausenden gilt die Idee, daß Kontrolle nicht nur gut sei, wo Vertrauen gefährlich ist, sondern in jedem Fall gut, besser als Vertrauen: eine Idee, die in der Stunde der Gefahr eine rettende sein kann, in anderen Stunden aber keinen Sinn macht, es sei denn, die Stunde der Gefahr werde als die alles entscheidende verherrlicht. Mit dieser Idee, die nicht eine der Männer ist, sondern der „Menschen in der Männergesellschaft", ist natürlich keine Gemeinschaft von Mensch und Natur hinzukriegen: keine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist", die Marx sich an der „Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen" erhofft (MEW Bd.4, S.482); eine Assoziation stattdessen, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung ist, mit ihr Staat zu machen und sich als Subjekt hervorzutun. Bereits „in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar", wie Horkheimer und Adorno der Ansicht sind. Ich habe keinen Grund, anderer Ansicht zu sein, auch wenn andere Autoren, so z. B. Pierre Clastres, Gesellschaften kennen wollten, die „contre l'Ètat" lebten (Staatsfeinde. Ffm. 1976). Davon ausgehend, daß auch Clastres' „Staatsfeinde" sich schon staatsmännisch geben und es zu keiner Zeit vermieden wurde, was nach Marx zu seiner Zeit endlich zu vermeiden ist, nämlich „die 'Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren" (EB, S.538), soll im III. Teil
„Der Gang Gottes in der Welt" ,
wie Hegel vom Standpunkt des Siegers den fortschreitenden Gang der Verstaatlichung der Gesellschaft nennt, aus der Sicht der Verlierer nachgegangen werden.